Judith Guntermann überragend als „Fräulein Else“

Schnitzler-Premiere der Companie im "Theater im Casino" zeigt innere menschliche Konflikte zeitlos überzeugend

Den Zuschauern des Monodramas "Fräulein Else", jüngste Produktion der Pyrmonter Theater Companie im Casino, wird einiges abverlangt. Eine komplizierte Reise durch die chaotische Gefühlswelt einer "höheren Tochter", 1924 von dem damals 62-jährigen Artur Schnitzler veröffentlicht. Was Regisseur Carl-Herbert Braun, Bühnenbildner "Ulbo" und vor allem die Darstellerin Judith Guntermann aus dem 80 Seiten starken "Reclam-Drehbuch" in einer gut einstündigen Aufführung geschaffen haben, ist absolut beeindruckend.

Die 19-jährige Else, Tochter eines Wiener Rechtsanwalts, wird während eines Italien-Urlaubs von einem Eilbrief ihrer Mutter überrascht: Sie soll den reichen Kunsthändler Dorsday, der bei ihr im Hotel wohnt, um ein Darlehen von 30.000 Gulden bitten. Ansonsten drohe ihrem Vater, der Mündelgelder veruntreut hat und möglicherweise suizidgefährdet ist, die Verhaftung. Dorsday willigt ein, fordert aber als Gegenleistung, Elses nackten Körper betrachten zu dürfen. Und so beginnt die Konfliktsituation der jungen Frau zwischen Loyalität zu ihrem Vater, Ekel vor dem unsympathischen Frauenhelden Dorsday, das Gefühl von Prostitution einerseits und dem Wunsch nach selbstbestimmter Weiblichkeit andererseits.

Diese Gefühlsschwankungen mach Judith Guntermann auf behutsame, doch radikale Weise deutlich. Wie sie die Balance und den Bruch zwischen Koketterie und Naivität, Hilflosigkeit und Trotz, Lebenslust und Todessehnsucht bewältigt, ist eindrucksvoll und berührend. Eine einsame Stunde lang ist die Schauspielerin mit unglaublicher Intensität auf der Bühne präsent, dabei sind Regie und Bühnenbild ein starkes Gerüst.

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Judith Guntermann zeigt in dem Monodrama "Fräulein Else" eine beeindruckende und berührende Leistung.

Carl-Herbert Braun hat den inneren Monolog stimmig konzentriert und glaubwürdig inszeniert. Ein riesiges Bett, das über den Bühnenrand des kleinen Theaters reicht, ist die eigentliche Spielebene. Die große Schlafdecke wird zu einem vielseitigen Requisit, zum großen Mantel, der Elses Blöße bedeckt, zum Leichentuch für einen gedachten Tod, zum Vorhang, hinter dem Else sich verkriecht. Die Video-Gestaltung (Josh Sliwinski) geht manchmal allzu schnell vorbei, doch Elses Portrait beim Lesen der Briefe bleibt haften. Mehr braucht es nicht an szenischer Gestaltung als sparsame Andeutungen, denn die eigentliche Handlung findet in den Köpfen der Zuschauer statt. Das die Nacktheit als Provokation, diktiert von Moralvorstellungen einer vergangenen Zeit, heute kaum noch schreckt: geschenkt! Entscheidend ist es, die inneren Konflikte eines Menschen zeitlos überzeugend darzustellen.

Doch ein Gedankenspiel sei erlaubt: Wie würde es Miss Else im Jahre 2015 ergehen? Vermutlich würde sie über Facebook kurz ihre blanke Schönheit posten, das Problem wäre gelöst: Daddy gerettet. Aber dann müssten Theaterfreunde auf ein intensives Erlebnis verzichten. Das wäre doch schade.

Karin Heininger - mit freundlicher Genehmigung der Pyrmonter Nachrichten